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Mit Process Mining auf der Spur des Hybriden Kunden

Digitalisierung! Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt!“ Aussagen wie diese sind beinahe inflationär im Umlauf - und zwar branchenübergreifend auf der ganzen Welt. Insbesondere bei Versicherungen ist der Hybride Kunde nach wie vor einer der personifizierten Treiber dieser Forderung. Im Rückblick betrachtet lässt sich sagen, dass Versicherer, die diesen Ruf bereits gehört und konsequent umgesetzt haben, damit einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil erzielen konnten und das nicht nur, weil während der Corona-Zeiten Angebote ohne direkten Vorort-Kontakt beraten und verkauft werden müssen, sondern auch danach. Selbst reine Vorort-Kunden sind jetzt gezwungenermaßen mit den für sie neuen Vertriebskanälen wie Internet, Telefon, Chat und Videochat konfrontiert, die maßgeblich für den Hybriden Kunden geschaffen wurden. Sind anfängliche Hürden und Skepsis erst bezwungen, wird ein Umdenken stattfinden und der kanalübergreifende Komfortgedanke (und die damit verbundene zeitliche und örtliche Flexibilität) an Wertschätzung gewinnen und schließlich überwiegen. Unsere These hierzu: Der persönliche Vorort-Kontakt – egal ob im Vermittlerbüro oder beim Kunden daheim – hat seinen Höhepunkt vor dem Ausbruch des Corona-Virus für alle Zeit erreicht. Fragt man sich nun, welche Zielgruppe dadurch anteilig gestärkt wird, ist die Schlussfolgerung relativ einfach: Kunden, die den Vorort-Kontakt geschätzt haben, legten bisher mehrheitlich auch großen Wert auf die persönliche Vorort-Beratung. Nun aber wächst die Erfahrung (wenn auch ungewollt), dass über verschiedene RemoteKanäle (z.B. Online, Telefon, Videochat) ebenso gut beraten werden kann. Doch der Prozess des einzelnen Kunden, für sich schließlich den persönlich präferierten Standardkanal zu finden, wird nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein. Die Kunden werden die angebotenen Kanäle testen, Erfahrungen sammeln und so schrittweise ihren neuen Lieblingskanal finden, der ihren Bedürfnissen gerecht wird. So nimmt die Zielgruppe Hybrider Kunde einen weiteren Aufschwung, nachdem zuvor teilweise der Eindruck aufkam, dass die ihm zugemessene (mediale) Relevanz nicht von allen im Management mitgetragen wurde.

Ein wachsender Kanal-Mix überfordert klassische Tracking Tools

Ein Grund für die „Abneigung“ gegenüber dem Hybriden Kunden könnte die schwere Greifbarkeit und damit Messung seines Verhaltens sein. Mal ist der Preis ausschlaggebend, dann die Servicequalität. War er gestern noch am Telefon, so ist er heute im Internet und morgen im Videocall. Aber klassische Tools zur Nachverfolgung eines Antragverlaufs im Sales Prozess (sog. Customer Journey Tracking) sind für diesen Kanal-Mix nicht gemacht. Sie liefern keine sinnvollen Ergebnisse für den gesamten Prozess, sondern fokussieren auf Web Analytics für den Online-Teil oder das Tracking eines Telefonats. Ein Kanalwechsel überfordert sie, was nicht verwundert, da diese Anforderung in der Vergangenheit nie explizit an diese Tools und Techniken gestellt wurde. Doch jede dieser Kundeninteraktionen hinterlässt Spuren in den jeweiligen Systemen. Auch wenn die aktuell eingesetzten Tools durch einen Kanalwechsel abgehängt werden, gelingt es doch immer mehr Versicherungen, dem Kunden durch konsequentes Einbetten der unterschiedlichen Kanäle in das zentrale Angebotssystem die Möglichkeit einzuräumen, eine Customer Journey am Telefon zu beginnen und z.B. im OnlineTarifrechner zu vollenden, ohne den Antragsprozess von vorne beginnen zu müssen. Die Rede ist vom sog. „seamless“ Kanalwechsel im Angebotsprozess, also dem nahtlosen Hin- und Herwechseln zwischen den Kanälen. Die prinzipielle Zauberformel dafür lautet, die erstmalig vergebene, einzigartige ID (meistens die Angebotsnummer) für andere Kanäle sichtbar zu machen und die bereits gesammelte Datenbasis in anderen Kanälen als Ausgangspunkt einzuspielen bzw. abrufbar zu machen. Das gelingt zunehmend mindestens teilweise, auch wenn noch nicht in allen Versicherungen alle Kanäle vollständig migriert sind. Im Regelfall füllt sich ein Angebot im Abschlussprozess daher schrittweise mit Daten. So erhält ein Angebot beispielsweise die E-Mail-Adresse des Versicherungsnehmers über das Telefon, während die IBAN im späteren Verlauf über den Online-Tarifrechner ergänzt wird. So wird das Angebot Stück für Stück mit den tarifierungs- und antragsrelevanten Daten befüllt, bis es vollständig ist und der Antrag eingereicht werden kann. Gesammelt werden die Daten in den Angebotssystemen, wo alle Fäden der eingebetteten Kanäle zusammenlaufen. Hier wird die Customer Journey des Hybriden Kunden damit erfolgreich getrackt und der gläserne Kunde wird plötzlich greifbar, sobald die erste Informationsübermittlung von der jeweiligen Antragsstrecke in das zentrale Angebotssystem stattfindet und eine eindeutige Zuordnung der Angebotsnummer gewährleistet ist. Der bisherige Haken an der vermeintlichen Greifbarkeit und Darstellung der Customer Journey war jedoch, dass dies nur mit großem manuellen Aufwand von IT-Spezialisten möglich war, weshalb die vorhandenen Daten in den Tiefen des Angebotssystems meistens nur im Falle eines Fehlerhandlings mit aufwendigen SQL-Abfragen aus dem Schlaf geweckt worden sind.

Process Mining - Die neue kanalübergreifende Transparenz realer Prozesse

Doch mit der Entwicklung und Etablierung der Process Mining-Technologie (einem Big Data Anwendungsfall) wurde ein Verfahren erschaffen, das genau diese Erhebung automatisiert und visualisiert darstellt. Vorhandene, aber häufig nicht genutzte Daten werden ohne großen Aufwand (eine nähere Beschreibung hierzu folgt unten beim Thema Proof of Value) automatisiert in klick- und auswertbaren, topaktuellen Prozessbildern aufbereitet. Bei der Darstellungstiefe kann in einen spezifischen Prozessdurchlauf von der Oberfläche aus bis auf die einzelne Prozessschrittausführung via „Drill-Down“ einfach per Mausklick hineingezoomt werden. Process Mining befähigt Unternehmen somit ihre Geschäftsprozesse anhand ihrer Daten zu erfassen, automatisiert zu rekonstruieren und detailliert zu analysieren. Also ein Reverse Engineering Verfahren, das durch Ankopplung an IT-Systeme die Prozessrekonstruierung und -visualisierung mit dem Ziel durchführt, mit Hilfe dieser Transparenz Schwachstellen und so Optimierungspotentiale in der Prozessausführung zu identifizieren. Klassischerweise dient Process Mining dazu, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, warum sich die Prozessausführung nicht wie erwartet verhält. Aber ebenso eignet sich Process Mining für das kanalübergreifende Customer Journey Tracking und deckt damit ein weiteres sinnvolles Anwendungsszenario auf, die flexibelste aller Zielgruppen begreifbar zu machen. Dafür braucht es nur wenige, bereits vorhandene Mindestdaten. Die Angebotsnummer, die dazu gehörenden Aktivitäten – in diesem Fall also die einzelne Antragsdatenzulieferung, der zugehörige Kanal und der Zeitstempel (siehe Grafik). All das schlummert in den Angebotssystemen, die eine Seamless-Fähigkeit anstreben, um den Bedürfnissen des Hybriden Kunden gerecht zu werden. Liest man diese Daten mittels Process Mining aus, erhält man die voll grafische und im Dashboard auswertbare Transparenz, wann für das jeweilige Angebot welche Information über welchen Kanal geliefert wurde und wie die Customer Journey aussah. Stellt man dieser neugewonnenen und bis dahin nicht erzeugbaren Transparenz bei Betrachtung der jeweiligen kundenspezifischen Customer Journeys nun die passenden Fragen entgegen, erhöhen das Wechselspiel und die daraus resultierenden Handlungsfelder die Conversion Rate.

Ein Anwendungsfall: Process Mining als Game Changer

Folgendes Praxisbeispiel verdeutlicht das. Es stellt sich z.B. die Frage: Ist die Ausstiegsquote an bestimmten definierten Messpunkten (z.B. nach Eingabe eines bestimmten Feldes oder Überschreitung eines Teilschrittes wie der Tarifierung) für alle Kanäle gleich? Gibt es hier zwischen den Kanälen signifikante Unterschiede, stellt sich die Frage der Ursache, um dieser entgegenzuwirken und die Abbrüche zu verringern. Ein typischer Problemfall ist z.B. dass der Kunde im Online-Tarifrechner häufig an einer Stelle aussteigt, an der die Kunden auf betreuten Kanäle (z.B. Telefon/Videochat) normalerweise nicht abbrechen. Hier gilt es, die Führung des Kunden durch den Online-Tarifrechner an dieser Stelle zu analysieren. Vermutlich ist die Feldbeschreibung oder gewünschte Eingabeart nicht zielführend und überfordert den Kunden. Da es bei der reinen Betrachtung des Online Tarifrechners vorher keine automatisiert aus der Praxis kommenden Referenzwerte zu anderen Kanälen gab, ist es gut möglich, dass diese Stelle sich bei der reinen Betrachtung des Online-Tarifrechners zwar als optimierungsbedürftig abgezeichnet hat, aber bei der Ausschließlichkeitsbetrachtung nie unter den Top 5 gelandet und somit nicht angegangen worden ist. Von dieser Einzelfallanalyse lässt sich dank kanalübergreifendem Customer Journey Tracking nun eine bereits in der Praxis funktionierende Best Practice auf andere Kanäle übertragen, um so eine insgesamt höhere Abschlussquote zu erzielen. Als weiterer, erfolgreich in der Praxis erprobter Anwendungsfall für Process Mining in der Versicherungswirtschaft eignet sich besonders der Schaden Management Prozess. Hierbei gilt es aus Kundensicht ganz klar die Prozessgeschwindigkeit zu erhöhen um kundenfreundlicher zu werden und gleichzeitig die Verringerung der Prozesskosten für einen der kostenintensivsten Geschäftsprozesse in der Versicherungswirtschaft anzustreben. Aber wie bei allem Neuen schwingt zunächst die Skepsis der Versicherungsunternehmen gegenüber einer neuen – vielversprechenden – Technologie mit, bevor die neue, vollumfängliche und einfach aus wertbare Transparenz als wertstiftender Game Changer erkannt wird. Die Befürchtungen, dass für die Anwendung von Process Mining große Vorabinvestitionen getätigt werden müssen und hier der nächste Langläufer in der Pipeline steht, sind nachvollziehbar. IT-Projekte und vermeintlich „out-of-the-box“ nutzbare Ansätze haben oftmals verbrannte Erde hinterlassen. Hier können nur Klarheit und Fakten Abhilfe schaffen: 1. Bereits nach einem kurzen Blick in die Systeme wird klar, dass die notwendigen Daten vorhanden sind und keine grundlegenden Eingriffe in laufende Systeme notwendig sind. 2. Es handelt sich nicht um ein Implementierungsprojekt, sondern vielmehr um eine Optimierungsmaß-nahme, die auf einer realen Datenbasis aufsetzt, bei der die kurze Time-to-Value an erster Stelle steht.

Größte Erfolgsaussichten und minimierte Risiken durch den „Proof of Value“

Die Anwendung eines in der Praxis validierten Best Practice-Ansatzes – des sogenannten Proof of Value – stellt dies sicher. Hierbei entsteht innerhalb von ca. 10 Wochen ein Business Case, der sich selbst trägt und auf die strategischen Unternehmensziele einzahlt. Dabei erfordert die Durchführung des Proof of Value nur geringe Beistellleistungen (z.B. Einräumen der Zugriffsrechte auf notwendige Tabellen) für das Unternehmen, das seine Prozesse analysieren und einen Eindruck von seinen realen Prozessabläufen gewinnen will. Die notwendige und passende Ausrichtung des Business Cases unter Einbezug laufender Projekte und die allumfassende Einbettung in die Digitalisierungsstrategie wird hierbei federführend durch den Fach- und Technologieberater durchgeführt, während die Process Mining Toolprovider ihre Mitwirkungspflichten mehrheitlich in ihrer Rolle des reinen Technologie Providers erfüllen. Um sicher zu stellen, dass der Business Case und die identifizierten Potenziale ihre volle Wirkung entfalten, ist es wichtig, jede einzelne Maßnahme vor der Umsetzung anhand der Bedürfnisse der Organisation aufzuplanen und sich so bedarfs- und anwendungsfallspezifisch für die bestmögliche Umsetzung zu entscheiden. Dies ist der Kerngedanke des Value First Principles der ifb group. Grundsätzlich gilt bei der Priorisierung und Umsetzung von Maßnahmen folgendes zu beachten: a) Handelt es sich um einen Quick Win oder eine mittelfristige Optimierungsmaßnahme? b) Wie lässt sie sich bestmöglich in die aktuelle Digitalisierungsstrategie und laufende Projekte eingliedern, wo gibt es Abhängigkeiten? c) Wie können die davon betroffenen Zielgruppen auf den verschiedenen Arbeitsebenen erfolgreich in die Umsetzung mit eingebunden werden, um ihre Mitwirkung und frühzeitige Einflussnahme zu ermöglichen? So kann beispielsweise RPA grundsätzlich eine gute Lösung sein, um schnell Mehrwerte zu heben, indem manuelle Arbeitsschritte automatisiert durch einen Software Roboter erledigt werden und so Automatisierungspotenzial genutzt wird. RPA ist jedoch nicht immer und zwangsläufig langfristig tragend und kann trotz sinnvoller Motivation bei fehlender oder falscher Kommunikation zu großen Verstimmungen und Unruhen führen. Es ist unabdingbar, dass der Mehrwert und das Gesamtbild der Organisation im Vordergrund steht, anstatt von vornherein auf eine bestimmte Technologie abzuzielen, die den Anforderungen nur bedingt gerecht wird.

Alle Beteiligten mit „auf die Reise“ nehmen

Insbesondere bei Optimierungen und ggfs. Automatisierungen, die interne Wechselwirkungen hervorrufen, ist es essentiell, Transparenz zu leben und alle Beteiligten frühzeitig einzubinden - sie mit auf die Reise zu nehmen. Bei der Umsetzung kommt es darauf an, partnerschaftlich an den Zielen zu arbeiten, denn jede Optimierung bedeutet auch Veränderung und diese gilt es mit fachlichem Expertenwissen, gesunder Menschenkenntnis und dem nötigen Feingefühl einzuführen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Process Mining-Initiative und ihr Mehrwert sich überall entfalten und dass Mitarbeiter, Vertriebspartner und Endkunden den Möglichkeiten der Digitalisierung offen gegenüberstehen, den Wandel aktiv begleiten. Um diese allumfassende Transformation möglich zu machen und allen Interessengruppen gerecht zu werden, ist eine multidimensionale und interdisziplinäre Aufstellung gefordert. Bei allen Digitalisierungsinitiativen gilt es, funktionale Vielseitigkeit und prozessuales Fachwissen mit einem ausgeprägten Technologieverständnis und langjähriger fachlicher Versicherungsexpertise zu paaren.

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift für Versicherungswesen in der Ausgabe-Nr.13/2020 erschienen.

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Lars Rautenburger & Alexander Liebl
Director Operational Excellence & Process Mining Expert - IFB Group
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